Die biographische Konstruktion der Intersektion von Alter(n) und Geschlecht und ihre Bedeutung für die offene Altenarbeit

Loading...
Thumbnail Image

Date

Journal Title

Journal ISSN

Volume Title

Publisher

Universität Vechta

Abstract

Gesetzesänderungen zum Geschlechtereintrag und Genderdebatten, aber auch der demographische Wandel, das Rentensystem und Altersarmut dominieren immer wieder die Berichterstattung. Alter(n) und Geschlecht scheinen dabei wiederkehrend in der breiten Öffentlichkeit von Relevanz zu sein und führen zu zahlreichen, oftmals kontroversen Debatten. Im wissenschaftlichen Diskurs sind Alter(n) und Geschlecht als relevante Merkmale längst etabliert, die Intersektion von Alter(n) und Geschlecht wurde jedoch jahrzehntelang weder in den Bereichen der Genderforschung, der Gerontologie noch der Intersektionalitätsforschung konsequent betrachtet. Mittlerweile hat diese zwar vermehrt Einzug in wissenschaftliche Diskurse gefunden, es bleiben jedoch zahlreiche Forschungslücken bestehen. Zusätzlich werden intersektionale Ansätze und Studien zu Alter(n) und Geschlecht entweder auf der Mikro- oder der Makroebene angesiedelt, eine Erforschung auf allen Ebenen findet jedoch kaum statt. Genau an dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an, um die Intersektion von Alter(n) und Geschlecht aus einer biographisch-rekonstruktiven Perspektive zu beleuchten: Da sich gesellschaftliche und individuelle Ebenen in Biographien durchdringen, können durch biographische Fallrekonstruktionen sowohl die Mikro- als auch die Makroebene erforscht werden. Eine intersektionale biographisch-rekonstruktive Perspektive ermöglicht es daher, Verweise auf Geschlechterpositionen und -differenzierungen sowie Altersgrenzen und -konstruktionen auf beiden Ebenen zu erforschen. Die benannte Intersektion soll dabei im konkreten Handlungsfeld der offenen Altenarbeit betrachtet werden. Mitunter bedingt durch gestiegene Lebenserwartungen gewinnen Freizeitangebote allgemein und damit einhergehend auch Angebote der offenen Altenarbeit verstärkt an Relevanz. Hier wird die Verwobenheit von Alter(n) und Geschlecht in der Ausgestaltung der Angebote und ihrer Nutzer:innenschaft sehr deutlich, da die Angebotslandschaft der Altenarbeit klar weiblich geprägt ist. Dabei gibt es sowohl explizit geschlechtsspezifische als auch geschlechtsunspezifisch Angebote. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es folglich, erstens einen Beitrag zur konzeptionellen und methodischen Weiterentwicklung der Intersektionalitätsdebatte um eine biographisch-rekonstruktive Perspektive zu leisten. Zweitens sollen Handlungsempfehlungen für Angebote der offenen Altenarbeit abgeleitet werden. Untersucht wurden daher der Einfluss der biographischen Konstruktion der Intersektion von Alter(n) und Geschlecht auf die Nutzung von Angeboten und – anders herum betrachtet – der Einfluss solcher Angebote auf die biographische Konstruktion der Intersektion von Alter(n) und Geschlecht. Dafür wurden im Rahmen der Studie 13 biographisch-narrative Interviews mit männlichen und weiblichen Personen im höheren Lebensalter in Nordrhein-Westfalen geführt, welche Angebote der offenen Altenarbeit nutzen. Die Interviews wurden anhand der rekonstruktiven Fallanalyse nach Rosenthal (2001) ausgewertet. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass Alter(n) und Geschlecht in den Biographien der Interviewten erkennbar werden. Geschlecht ist dabei an bestimmte altersspezifische Ereignisse gekoppelt, wie beispielsweise Berufstätigkeit und Care Arbeit. Im Verlauf des Lebens jedoch scheint Geschlecht impliziter, Alter(n) hingegen direkter auf die Lebensgestaltung zu wirken, wobei besonders altersbedingte Faktoren wie Erkrankung, Mobilität und die Auseinandersetzung mit Sterblichkeit relevant werden. Im Hinblick auf den Einfluss der biographischen Konstruktion von Alter(n) und Geschlecht auf die Nutzung von Angeboten sind die Nutzungsgründe höchst individuell, wobei auch hier Alter(n) sehr direkt erkennbar wird, Geschlecht hingegen eher implizit. Insbesondere führen selbst- und fremdbestimmte Änderungen im Verlauf des Lebens (bspw. Scheidung oder Versterben von Partner:innen) zu einer (verstärkten) Nutzung von Angeboten. Die Nutzung wird weniger durch die biographische Konstruktion von Geschlecht beeinflusst, sondern ist höchst individuell und eher altersbedingt, wie beispielsweise der Wunsch nach sozialer Teilhabe, dem Erhalt der eigenen Gesundheit oder dem Erfüllen von Wünschen nach dem Renteneintritt. Geschlecht wirkt jedoch implizit, wenn zum Beispiel Angebote genutzt werden, um die seit Renteneintritt fehlenden Strukturen der Erwerbsarbeit auszugleichen, was als eher männlich konnotiert betrachtet werden kann. Umgekehrt betrachtet wirkt sich die Nutzung von Angeboten der offenen Altenarbeit nicht direkt auf die biographische Konstruktion von Geschlecht, wohl aber auf die Konstruktion von Alter(n) aus, welches hierdurch teils positiver wahr- und angenommen wird. Darüber hinaus weicht der erwartete Nutzen von Angeboten der offenen Altenarbeit, den sich die Biograph:innen erhoffen, oftmals vom tatsächlichen Nutzen bzw. vom tatsächlichen Einfluss der Nutzung auf die Biographie ab. Es werden unterschiedliche Faktoren relevant, welche seitens der Biograph:innen im Vorfeld nur teilweise angedacht waren. Insbesondere erfahren die älteren Menschen neben sozialer Teilhabe, weniger Einsamkeit, körperlicher und kognitiver Fitness ein Zugehörigkeitsgefühl, eine Struktur im Alltag sowie ein Sicherheitsgefühl durch den Kontakt zu einem professionellen Angebot der Sozialen Arbeit. Insgesamt zeigt sich, dass Geschlecht im Verlauf des Lebens im Kontext der Nutzung von Angeboten in den Hintergrund zu rücken scheint, Alter(n) hingegen dominanter wird, sodass hier zunehmend von einem undoing gender while doing age gesprochen werden kann. Durch die intersektionale biographisch-rekonstruktive Betrachtung können entsprechend angenommene Relevanzen von Differenzmerkmalen kritisch hinterfragt werden und die Intersektionalitätsdebatte mit der zeitgleichen Betrachtung von Mikro- und Makroebene bereichern. Auch das Handlungsfeld der offenen Altenarbeit kann von einer kritischen Betrachtung von Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie Alter(n) profitieren und durch Biographiearbeit Angebote bedarfsgerecht gestalten.

Description

Keywords

Intersektionalität, Intersektionalitätsdebatte, Altern, Alter, Geschlecht, Biographieforschung, Offene Altenarbeit, Soziale Arbeit

Citation


Collections