Zusammenfassung:
Das Anthropozän-Konzept setzt die menschliche Spezies als Kollektivsubjekt und Protagonistin in das semantische Zentrum einer ganzen geologischen Epoche. Es postuliert einen ‚menschlichen‘ – d.h. auf die menschliche ‚Spezies‘ bezogenen – Maßstab als Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erklärungsansätze für geologische, biochemische und klimatische Veränderungsprozesse. Damit eröffnet das Anthropozän-Konzept eine systematische geo- und erdsystemwissenschaftliche Analyse der menschlichen Einwirkung auf unterschiedliche, miteinander zusammenhängende Teilsysteme und Phänomene des Erdsystems. Es wirft aber auch die Frage auf, in welcher Weise sich die abstrakte, nur vermittels epistemisch-technischer Verfahren zugängliche Wirkebene eines kollektiven Speziessubjekts zu der Wirk- und Erfahrungsebene von menschlichen Individuen verhält. Denn mit der Priorisierung auf die kumulierten Effekte menschlicher Handlungen richtet das Anthropozän-Konzept zugleich ein implizites Appell an jede und jeden Einzelnen, sich der eigenen Verantwortung vor der Folie immenser Größenordnungen bewusst zu werden. Damit rücken Fragen der Vorstellbarkeit, Intelligibilität und sinnlichen Erfahrbarkeit der kumulativen Wirkebene in den Vordergrund, und somit der Aspekt ihrer Vermittlung.
Die Ausgangshypothese dieser Dissertationsschrift besagt, dass sich jeder Versuch der Vermittlung einem Problem stellen muss, dass sich als ‚Skalenproblem‘ fassen lässt. Die Involvierung der menschlichen Spezies in ‚anthropozäne‘ Phänomene lässt fundamental unterschiedliche Maßstäbe ineinander kollabieren: planetare Veränderungen, deren Beobachtung in den Kompetenzbereich erd- und geowissenschaftlicher Forschung fallen und die demnach erst vermittels technischer, medialer und epistemischer Verfahren erschließbar werden, halten Einzug in die Lebensrealität von Individuen, ebenso wie umgekehrt die Handlungen von Menschen Einfluss auf die Beschaffenheit und Funktionalität planetarer Prozesse nehmen. Der Begriff des Skalenproblems zielt darauf ab, die Ausprägungen und Effekte, die sich aus dem Aufeinanderprallen und Konvergieren scheinbar inkommensurabler Maßstäbe ergeben, als eine Herausforderung für die menschlichen Sinne und die Vorstellungskraft zu fassen.
Das Ziel der Dissertationsschrift besteht darin, in der Untersuchung exemplarischer literarischer, ästhetisch-künstlerischer, epistemisch-wissenschaftlicher und technologischer Praktiken Skalenprobleme freizulegen und darin affirmativ gewendete Artikulationen der Rückkopplung großskaliger ‚anthropozäner‘ Phänomene an einen menschlichen Individualmaßstab zu identifizieren. Dabei wird darauf abgestellt, das Anthropozän affirmativ als ein an die sinnliche Wahrnehmung und Vorstellungskraft anschlussfähiges Konzept zu fassen – und folglich als eine Möglichkeit, das komplexe geo- und erdsystemwissenschaftliche Fundament der fachlichen Debatten über anthropogene Einflussfaktoren in einen Dialog mit kulturellen, politischen und öffentlichen Diskursen über Individualverantwortung in Anbetracht einer sich verändernden Welt zu bringen.