Zusammenfassung:
Die Berufskultur der Frühen Bildung steht seit einigen Jahren im Zentrum der Bildungsdiskussion. Sie ist die Sinngemeinschaft der Pädagoginnen und Pädagogen in den Kindertageseinrichtungen und Sensor dafür, wie Veränderungen wahrgenommen und im Arbeitsfeld interpretiert werden. Anfang der 2000er Jahre wird, ausgelöst durch die internationale Leistungsvergleichsstudie PISA, die öffentliche und politische Aufmerksamkeit auf die Kindertageseinrichtungen verstärkt. Innerhalb relativ kurzer Zeit folgen weitgreifende bildungs- und familienpolitische Reformen im System der Kindertagesbetreuung, die auch zu strukturellen Veränderungen führen, u.a. steht die Akademisierung der Frühpädagogik im Zentrum. Mit den großen Streiks in den Jahren 2015 und 2016 wird deutlich, dass die Berufskultur in Bewegung geraten ist. Der Streik gilt als soziale Arena und macht fehlende Anerkennung, Unmut und Konflikte in Arbeitsfeldern öffentlich. Ob und wie Veränderungen auf der Makroebene in der Berufskultur diskutiert werden, ist Gegenstand der vorliegenden Dissertation. Mittels der Grounded Theory Forschung (Strauss/ Corbin) wird danach gefragt, welche Veränderungen die frühpädagogischen Fachkräfte wahrnehmen und wie sie mit diesen umgehen. Der gesellschaftliche Wandel wird durch einen von der Fachdisziplin mitgetragenen Diskurs zur Professionalisierung des Berufsfeldes begleitet. Daher wird mit Bezug zum Professionalisierungsdiskurs kontrastiert, wie die Berufskultur auf den Diskurs der Akademisierung reagiert. Die Studie nimmt dazu eine Binnenperspektive ein, d.h. einen mikroanalytischen Blick auf die Dynamiken innerhalb der Berufskultur selbst. Der theoretische Zugang der Forschungsarbeit ist in der verstehenden Soziologie verortet. Die interaktionistische Handlungstheorie (Anselm Strauss) ermöglicht, in Verbindung mit der Grounded Theory Methodologie, offen und explorativ den Forschungsfragen nachzugehen und die Perspektive der Berufskultur vor dem Hintergrund komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge zu verstehen. Die Aushandlungs- und Differenzierungsprozesse der Berufskultur werden vor dem Hintergrund historischer Entwicklungspfade sowie gegenwärtigen gesellschaftlichen, politischen und fachwissenschaftlichen Entwicklungen und Diskursen betrachtet. Die gesellschaftlichen Erwartungen an die Kindertageseinrichtungen sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, weshalb die Berufskultur ihren gesellschaftlichen Auftrag und damit ihre Kernaufgaben neu auslotet. Der bisherige Erfahrungsraum der pädagogischen Praxis kann hierfür kaum angemessene Orientierung bieten. Dennoch greift die Berufskultur darauf zurück, um ihre Handlungsstrategien auszuloten. Obwohl die früh- bzw. kindheitspädagogische Disziplinentwicklung und mit ihr das akademische Wissen insgesamt voranschreitet, fehlt innerhalb der Berufskultur der disziplinäre Rückbezug. Aus der Mikroperspektive heraus wird hier sichtbar, dass sich die Berufskultur selbst ihrer Fachdisziplin nicht bewusst ist. Wenn der Professionalisierungsdiskurs mittels seines Orientierungswissens im Handlungsfeld seine Wirksamkeit entfalten soll, braucht es einen direkten Wissenstransfer zur und den wechselseitigen Austausch mit der Berufskultur. Professionalisierung schlägt sich als Diskurs allein nicht auf die Handlungsstrategien der Praxis nieder. Kooperationen zwischen Fach- und Hochschulen, Offenheit für multiprofessionelle pädagogische Teams und gemeinsame Praxisforschung könnten als Motor dienen.
Mit der vorliegenden Dissertation wird eine wichtige Forschungslücke geschlossen und zum ersten Mal die Wahrnehmung des Akademisierungsdiskurses aus Sicht der Berufskultur im Arbeitsfeld beforscht.